Wilfried Kaets
absolvierte künstlerische, wissenschaftliche und pädagogische Studien mit entsprechenden Abschlüssen an der Robert-Schumann-Hochschule für Musik und der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.
Dem Konzertexamen im Fach Orgel folgten zahlreiche Kurse und Meisterkurse, vor allem im Bereich der Klavier- und Orgelimprovisation (P. Eben, Prag; H. Riethmüller, Berlin) sowie der Komposition und Instrumentation (Oskar G. Blarr, Düsseldorf).
Preisträger des Hochschulwettbewerbs Düsseldorf für Orgelliteratur und -improvisation (Gottfried Schreuer Preis). Zahlreiche Konzerte im In- und Ausland. Diverse Produktionen (CD, DVD, Funk und Fernsehen).
Seit 1986 beschäftigt er sich intensiv in Forschung, Theorie und Praxis mit dem Medium Stummfilm, hat bislang über 200 verschiedene Stummfilmvertonungen geschaffen und in über 450 Konzerten live präsentiert. Dozent für Filmmusik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (1992 – 2002); Leitung zahlreicher Seminare und Meisterkurse für Stummfilmbegleitung (u.a. mehrtägiger Stummfilmbegleitungsworkshop für Organisten und Pianisten an der Musikhochschule Köln).
Kaets hat als erster Komponist/Interpret seit Ende der Stummfilmzeit regelmäßig historische Filme im Kirchenraum mit Livemusik präsentiert und damit die Renaissance dieser Aufführungsform in Deutschland begründet.
Die Kompositionen von Wilfried Kaets wurden bislang in vielen Konzertsälen (u.a. Kölner Philharmonie, Oetkerhalle Bielefeld, Konzerthaus Wien, Theatre de Cappucines Luxemburg, Königliches Opernhaus Muscat / Oman; Konzerthalle Perm /Russland, Gasometer Oberhausen), Kinos (Deutsches Filmmuseum Frankfurt, Landesfilminstitut Düsseldorf, Walhalla Wiesbaden, Filmmuseum Potsdam, Filmverband Dresden…) und vielen Kirchen (Trierer Dom, Stadtkirche Bayreuth, Dom St. Eberhard Stuttgart, Münsterkirche Villingen, Marienkirche Leipzig, Rochuskirche Köln, Münsterkirche Konstanz, Hallgrimskirkja Reykjavik/Island, St. Martin Dudelange/Luxemburg, St. Magdalena Linz/Österreich..) sowie im offiziellen Kulturprogramm auf der EXPO 2000 in Hannover aufgeführt.
Herausragende Produktionen der letzten Jahre:
CineOratorium „King of Kings“: amerikanischer Stummfilm aus dem Jahre 1927 von Cecil B. de Mille mit einer neuen Musikfassung für 8 Solisten, Chor und doppeltes Orchester. UA 2013 Kölner Rochuskirche
„Von Morgens bis Mitternacht“: Stummfilmklassiker von 1920 mit Live-Musik für 2 Flügel, Cembalo, doppeltes Schlagwerk, Tenorsolo und gem. Chor. UA 2007 Kölner Philharmonie
„La Passion“ für Chor, Solisten und konzertante Orgel. UA 2002 Konzerthaus Wien
„KlangWelten – Klänge aus Natur und Technik, vokal und instrumental, aus christlicher, jüdischer, islamischer und agnostischer Poetik und Musik“ mit Musikern aus Deutschland, Irak, Russland, Türkei und Israel. UA 2000 Hannover (2 Konzerte im offiziellen Kulturprogramm der EXPO 2000)
„Beschwerdechor Köln“: Performance für Chor, Solisten und Orchester. UA 2008 Kölner Philharmonie; Live-Übertragung im Rundfunk (WDR 3)
Oratorium „Was uns zum Glücke noch fehlt“ für Chor, Solisten und interkulturelles Ensemble. UA 2009 Kölner Philharmonie
„Unter gleichem Himmel“ – interkulturelles Konzertprojekt für Chor, Solisten und Ensembles geflüchteter MusikerInnen. UA 2017 Gasometer Oberhausen unter der riesigen Erdkugel im Rahmen des Ausstellungsprojektes „Wunder der Natur“
Kaets lebt als Musiker und Komponist in Köln und ist als Regionalkantor für Köln tätig.
Über Stummfilmmusik
Die Aufgabe
Heute für Filme von gestern Musik zu machen.
1895 wird gemeinhin als das Geburtsjahr des Kinos angesehen. Welch einen weiten Weg hat der Film in dieser kurzen Zeit zurückgelegt von den ersten, nur wenige Sekunden langen Streifen der Lumieres, Melies´ und Skladanowskys, in denen z.B. das Verlassen der Angestellten einer Fabrik in einer – natürlich starren – Einstellung gezeigt wurde bis zu der „befreiten“ fliegenden Kamera eines Abel Gance und Friedrich Wilhelm Murnau oder den expressiven bis avantgardistischen Montagetechniken eines Carl Theodor Dreyer, Sergej Eisenstein oder Walter Ruttmann !
Welch ein weiter Weg gleichfalls für ein Medium, das den Film von Anfang an begleitet hat, die Musik. Stummfilmmusik seit 1895: ein altes Harmonium, ein Pianist mit Stehgeiger oder Geräuschemacher im Duett, das Salonorchester mit reduzierten Arrangements der großen spätromantischen Symphonien bis hin zum mehr als 120 Personen starken Orchester gibt Auskunft über die Bandbreite, Produktionsmechanismen, Geschmacksfragen, Stilkunde, kommerzielle Verwendung, Risikoabwägung und Experimentierfreude.
Vor allem die film-musik-dramaturgische Frage ist dabei für den Stummfilmusiker zu beleuchten: Hintergrundmusik gegen Projektorenlärm und Angst in der Dunkelheit; adäquate Geräuschkulisse zur Verlebendigung einer stummen visuellen Revolution; experimentelle Versuche von sekundengenauer Passung; provokant gestaltete Kontrapunktik; Einfangen und Wiedergeben von Atmosphäre, Emotion und Stimmung…
Die großen Ereignisse des Stummfilmkinos entstanden früher wie heute aus der vereinten Wirkung beider Zeitkünste, aus einer magischen Steigerung von filmischer Erzählkunst und musikalischer Poesie, dramatischer Spannung und emotionalem Ton.
Die Ansprüche an die musikalische Vermittlung der stummen Bildwerke sind im Zeichen der kulturellen Entwicklung durch die Jahrzehnte gewachsen und werden im gleichen Kontext leider auch nicht selten verraten durch falschen Ehrgeiz von Musikern, die z.B. ihre avantgardistischen Prinzipien am Film exerzieren, um klarzumachen, dass sie nur ja keine funktionale Musik schreiben; von Musikern, die aus Unfachlichkeit oder mangelndem Respekt gegenüber dem Regisseur und seinem Werk ihre privaten ungewandelten musikalischen Prinzipien neben dem Film her oder gegen ihn laufen lassen oder gar „hinter dem Bild her improvisierend“ dem Publikum die vermeintlich wertvolle Gültigkeit ihrer Spontanimpression als hohe Kunst glauben machen wollen.
Hauptkriterium für eine gelungene Stummfilmvertonung bleibt nach wie vor S. M. Eisensteins Forderung, „dass in einem organischen Kunstwerk ein einheitliches Strukturgesetz alle Merkmale dieses Werkes durchdringt und dass auch die Musik von den gleichen grundlegenden Strukturprinzipien gesteuert werden muss“.
Für den Stummfilm schreiben bedeutet, sich auf die speziellen Gegebenheiten von Bildsprache, Dramaturgie, Erscheinungsbild und Gesamtästhetik einzulassen, bedeutet, dem Ausdrucksbestreben des Regisseurs gleichsam die Hand zu reichen, d. h. kompositorische Entscheidungen zu fällen, die sich der narrativen Logik, den rhythmischen Großverläufen, der strukturellen Semantik und der sensuellen Qualität der visuellen Vorlage verpflichtet fühlen.
In beinahe sieben Jahrzehnten hat der Tonfilm die Seh- und Hörgewohnheiten des Publikums verändert. Er differenzierte die audiovisuellen Bezüge und bereicherte ihre klanglichen Möglichkeiten. Deshalb entfernen sich neuere Vertonungen von den historischen Vorbildern nicht nur durch die erweiterte Basis des musikalischen Materials, sondern auch durch innovative Dramaturgien, wie sie der Einsatz elektronischer Instrumente oder stilistischer Idiome (Jazz, Minimal Music u. a.) nahe legt. Als Komponist von heute will ich die Erfahrungen der Rezeptionsgeschichte nicht ausklammern und empfinde gerade darum die Auseinandersetzung mit den überlieferten Film- und Tondokumenten (Aufnahmen, Noten, Titel-Stichwortlisten, Kinotheken…) als künstlerische Herausforderung.
Auch innovative musikalische Umsetzungen können überzeugen und veranschaulichen die Bemerkung Th. W. Adornos, dass echte Traditionspflege sich nicht in der Konservierung der Vergangenheit erfüllt.
Praxis – Stummfilmmusik
Stummfilmmusik: Der Mann an Klavier und Orgel
Geschichte – Abgeschriebenes und Mutmaßungen
Seit Filme öffentlich vorgeführt werden, erklingt dazu auch Musik (bei der ersten Vorführung der Brüder Lumiere 1895 in Paris soll ein Pianist gespielt haben). Ziemlich sicher ist auch, dass der Einsatz von Musik nicht nur die Beseitigung von Störfaktoren zur Aufgabe hatte (Projektionsgeräusche, Überdeckung des „Außenlärms“ in den nicht isolierten Räumen, der Unruhe im Publikum selber, sowie „Besänftigung“ von ängstlichen Zuschauern, die ja wegen der noch sehr lichtschwachen Projektion in völlig abgedunkelten Räumen sitzen mussten – dazu kommt dann noch der schwer zu ertragende Widerspruch zwischen der Wirklichkeitsnähe der Bilder und der unwirklichen Stille), sondern auch Stimmung aufbauen, Eindrücke verstärken und Gefühle lancieren sollte.
Dabei scheint vor allem für die erste Zeit vor 1900 zu gelten, dass auf adäquate, die Illusion, das Wirklichkeitserlebnis fördernde Musikauswahl erheblicher Wert gelegt wurde, während nach 1900 nach verschiedenen Aussagen jede Musik, vorzugsweise populäre, recht war, also das Faktum der musikalischen Begleitung als solcher an Bedeutung gewann.
Daneben griffen die Pianisten und Organisten (schon 1896 soll ein Organist die Londoner Erstaufführung Lumiérescher Filme auf einem Harmonium – dem zudem drei Töne gefehlt haben sollen – begleitet haben) natürlich auch auf vorhandene Literatur – vorzugsweise der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts (also der Linie „Lieder ohne Worte“ / Mendelssohn / Schumann / Grieg / Salonmusik) zurück, deren kurze Charakterstücke ja auch den Charakterbildern der frühen Filme stimmungsmäßig vielfach recht nahe kamen. Was sollten sie bei den langen Präsenzzeiten im Kino (meist vom späten Vormittag bis 23 Uhr ununterbrochen), den häufig wechselnden Programmen, der kaum gewährten Vorbereitungszeit und natürlich in Ermangelung einer speziellen Literatur auch anderes tun?
Je länger die Filme werden, je mehr der aufkommende Spielfilm mit seiner dynamischen Diskontinuität der in einzelne Szenen aufgelösten Geschichte ein konstrastierende Szenen und Einstellungen aneinander bindendes musikalisches Kontinuum gleichsam fordert, desto mehr entwickelt sich die Filmmusik zu einer eigenständigen Kunst.
Bereits 1910 werden in amerikanischen Fachblättern regelmäßig Tipps zur Untermalung aktueller Filme gegeben (wobei zu bemerken wäre, dass die französische Produktionsgruppe „Film d‘ Art“ schon 1908 Camille Saint Saens für eine Original-Orchestermusik zu ihrem Einakter „L´ assassinat du Duc de Guise“ gewinnen konnte).
Ab 1912 entstehen so genannte „cue sheets“: Musiklisten, die exakt auf den Ablauf des jeweiligen Films ausgerichtet sind. Der Weg von der Perfektionierung der „cue-sheets“ mit Auflistung der musikalischen Charaktere, Verzeichnis der den Charakteren adäquaten Musiktitel (Kompilation), Ausformulierung von Überleitungen und Verknüpfungen (Komposition) bis zur Klavierpartitur, die auf vorgefertigte Elemente verzichtet (werkbezogene Originalkomposition), ist leicht nachzuvollziehen.
Auch in einer Zeit der wachsenden Originalmusik für große Orchester behält der Pianist / Kinoorganist seine wichtige Position: in der Provinz sowieso, wo er, aus dem Klavierauszug spielend, das aus wirtschaftlichen Gründen nicht vorhandene Orchester nachahmt.
Aber auch in den großen Kinopalästen übernehmen Klavier oder Kinoorgel die im Orchester fehlenden Instrumente, die Orgel sorgt zudem für den instrumentalen Ausgleich der oft ungleichgewichtig disponierten Ensembles (zu wenig Streicher bei zu vielen der unterschiedlichen Klangfarbe wegen notwendigen Bläser) und auch für Veränderungen der Lautstärke. Außerdem übernimmt der Organist mit der reichhaltig auch mit Effekten ausgestatteten Kinoorgel die Begleitung ganzer Filmvorführungen, weil das Orchester nicht fünf oder sechs Zweistunden-Sitzungen täglich bewältigen konnte. Der „Mann am Klavier“ allerdings überlebt diesen Trend zum Luxuriösen in den großen „Lichtspieltempeln“, die ab etwa 1920 gebaut werden, kaum irgendwo. Immerhin gehören beispielsweise zum New Yorker „Roxy“ (1927) ein Orchester von 110 Mann, vier Dirigenten, drei Organisten, ein gemischter Chor und eine Gruppe hochkarätiger Vokalsolisten.
Stummfilmpraxis heute – ein persönlicher Blick
Vergleiche der Kinotheken belegen, dass in der Stummfilm-Ära durchaus unterschiedliche musikalische Praktiken existierten und sich ablösten. Zudem scheitern Versuche (die natürlich auch in einigen Fällen durchaus erfolgreich unternommen werden), kompilierte Filmmusik zu rekonstruieren, oftmals an einer ganzen Reihe von Problemen: Notenmaterial und Kompilationslisten sind selten vorhanden oder nicht zugänglich (auch wegen manch miserabler Archivierung und Desinteresse aus mangelndem wirtschaftlichen Anreiz der Filmfirmen)
die Kompilationslisten decken sich selten mit den vorhandenen, meist hemmungslos zerstückelten Filmkopien
in der Regel sind vielleicht 20 % des verwendeten Notenmaterials heute überhaupt noch aufzutreiben
Klavierauszüge sind nur bruchstückhaft oder mit Fehlern, Ungenauigkeiten und unpräzisen Angaben durchsetzt vorhanden (sie sind ja oft nur für eine ganz spezielle Aufführung/Premiere angefertigt worden).
Bei Live-Aufführungen ergibt sich häufig das Problem der Vorführgeschwindigkeit: manche Kinos haben keine Geräte, die weniger als die heute üblichen 24 Bilder pro Sekunde projizieren können. Dann wird die Partitur sofort hinfällig (und bringt mich als Ensembleleiter erheblich ins Schwitzen).
Eine Musik kann nur für eine bestimmte Kopie erstellt werden, weil kaum zwei Stummfilmfassungen übereinstimmen (damit habe ich schon häufiger Probleme gehabt, dass plötzlich Szenen in einem Film auftauchten, die mir bezüglich Inhalt und vor allem Länge völlig unbekannt waren). Im allgemeinen alleine musizierend (Klavier/Orgel), entfallen zumindest die Synchronisationsprobleme mit weiteren Musikern.
Bei der Entwicklung von Stummfilmmusik beachte ich stets mehrere Faktoren:
Filminhalt, Filmgenre: ist es etwa ein wüster Slapstick oder ein sozialkritischer Dokumentarfilm?
Entstehungszeit: ein handkolorierter Zauberfilm von G. Meliés hat andere „Wurzeln im Denken“ als ein Revolutionsfilm von S. Eisenstein und bedingt auch grundsätzlich unterschiedlichen Musikeinsatz.
Regisseur, Filmsprache, Einordnung in die Entwicklung eines filmischen Konzeptes eines Regisseurs/ Regieteams: bei einem Asta Nielsen-Melodram habe ich einmal als stilistische Vorgabe die Musik gesetzt, die ein „Mann am Klavier“ 1920 in der 27.Vorstellung in einem Bretterkino in der tiefsten Provinz vielleicht hätte spielen können. Bei abstrakten O. Fischinger-Filmen dagegen habe ich ein Grafikprogramm mit Zeichnungen des Filmes gefüttert und in synthetische Musikklänge verwandelt, wobei ein Computer mehrere Synthesizer ansteuerte. Bei C. Th. Dreyers in Skandinavien gedrehten Filmen zum Beispiel griff ich auf Musik von Edvard Grieg zurück (Prästankan).
organisatorische und örtliche Vorgaben: eine VHS-Veranstaltung zum Thema „Filmkunst-Augenlust“ für Filmwissenschaftler beispielsweise forderte die Demonstration unterschiedlicher Methoden der Stummfilmbegleitung innerhalb des Programms (an unterschiedlichen Filmen natürlich).
außerdem reagiere ich bei Live-Auftritten und vor allem bei der Improvisation, also der Komposition aus dem Stegreif, immer auf das Publikum. Die Kombination aus komponiertem (eigenem und vorgefundenem) Material und Improvisation, die eine besonders schnelle Reaktion ermöglicht, kennzeichnet meine Filmmusik. Dabei reicht die thematisch wie harmonische Bandbreite von der Stilkopie bis zur völligen Verfremdung des Instrumentalklangs.
Das bedingt natürlich eine intensive Beschäftigung mit Film, Literatur und Musik (vom Entwickeln der Gesamtanlage der Musik über die Ausformung der einzelnen Bausteine bis zum handfesten – und stundenlangen – Üben am Instrument (einheitliches Klangbild, Transpositionsübungen der Themen…).
Nicht nur bei längeren Filmen halte ich es für wichtig, die Perspektive der Musik zu variieren, um nicht langweilig zu werden. So ist also mal die Handlung zu begleiten, mal zu paraphrasieren, die Entwicklung anzudeuten, oder sind die Bilder zu kontrapunktieren (beispielsweise wird die Feuertodsequenz von „Jeanne d‘ Arc“ mit sehr ruhiger Musik – dem Choralthema aus dem Requiem „Zum Paradiese werden dich geleiten die Engel…“ – unterlegt, die die Gewissheit der Erlösungshoffnung widerspiegelt).
Außerdem kann dem Schnittrhythmus der Sequenzen gefolgt werden (während der langen Schlusssequenz in Hitchcock‘ s „The Lodger“, einer Menschenjagd, wird bei Kamerablickwechsel die Tonart des Motivs und seine Klangfarbe (Lage / Register der Orgel) verändert, um die Spannung zu steigern).
Weiterhin besteht die Möglichkeit, die verschiedenen Sinnebenen des Films instrumental zu verdeutlichen (beispielsweise könnte traditionelle Dur/Moll-Harmonik die Atmosphäre eines einfachen, ländlichen Zuhauses skizzieren, während der böse Unbekannte eine spätromantische, mit Dissonanzen angereicherte Harmonik mit sich führt) oder auch die Möglichkeit, „Filmmusik als solches“ zu präsentieren (etwa bei einer Titelmelodie).
Empfehlungen – vielleicht noch etwas persönlicher
Auf derart wenigen Seiten kann weder zur Geschichte der Stummfilmmusik etwas ausgebreitet werden, das wissenschaftlichen Bohrungen gegenüber resistent wäre, noch kann ein Komponist seine, in vielen Stunden entwickelten und facettenreichen Überlegungen zur Vertonung unmissverständlich darlegen.
Daher ist es mir ein Anliegen, mitzuteilen, dass ich durch die intensive Beschäftigung mit Stummfilmen – bedeutenden wie weniger bekannten – in den letzten 20 Jahren diesem Medium gegenüber einen erheblichen Respekt entwickelt habe. Dass Stummfilm nicht nur „Dick und Doof“ ist, weiss der größte Teil des Publikums hoffentlich schon lange, aber meine These, dass die cineastische Kunst und die Bildsprache gegen Ende der Stummfilmzeit eine Höhe herausgebildet hat, die auch heute kaum überschritten wird, soll motivieren, in Zukunft weitere Kunstwerke der Stummfilmzeit zu betrachten.
Es seien – nicht willkürlich, aber sehr selektiv – für´s erste anempfohlen (ausser den bekannten Filmen von Caligari, Napoleon, Nosferatu, Metropolis, Panzerkreuzer Potemkin bis Goldrush…): C. Th. Dreyer: Prästankan (1920); K. H. Martin: Von Morgens bis Mitternacht (1920); F. Lang: Der müde Tod (1921); W. Ruttmann: Opus 1-4 (1922-25); L. Kuleschow: Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki (1924); F. W. Murnau: Der letzte Mann (1924); H. Tintner: Cyankali (1930).